Wednesday, January 10, 2007

Easy comes, easy goes

Baltische Zerrissenheit

In der November-Ausgabe des „vorwärts“ beschreibt Kai Doering seine ganz persönlichen Eindrücke über jungen Menschen in Lettland. Diese Eindrücke sollen hier nicht widerlegt werden. Aber als politische Menschen, die auch schon in Lettland gelebt haben und dort zur Zeit leben möchten wir wenige Punkte thematisieren, um Kai Doerings Impressionen in einen weiteren Kontext zu stellen. Dazu gehören das Hochschulsystem, die Migrationsbewegung in Richtung der britischen Inseln und die Lage der Zivilgesellschaft.
Das lettische Hochschulsystem zeichnet sich in erster Linie durch ein massives Missverhältnis von Quantität und Qualität aus. Während es in Lettland mit seinen 2,37 Millionen Einwohnern heute über 20 staatliche und 13 private Einrichtungen der höheren Bildung gibt, leiden die Einrichtungen unter einer bedeutenden Unterfinanzierung verbunden mit einem Mangel an qualifizierten Hochschullehrern.

Akademiker gehen in den Westen

Die Zahl an Hochschülern pro 1000 Einwohner in Lettland ist unter den höchsten in Europa. Dagegen ist die Zahl der Promotionsstudenten pro 1000 Arbeitnehmern mit 0,6 nur halb so hoch wie z.B. im Nachbarland Estland mit seinen 1,37 Mio. Einwohnern. Ganz zu Schweigen vom Durchschnitt in der EU (8,5) oder sogar 11 in den Vereinigten Staaten und Japan. Die meisten jungen Forscher verlassen die lettische Hochschullandschaft in Richtung Westeuropa oder den USA. Nicht nur aufgrund der extrem niedrigen Gehälter, sondern auch wegen des dem Sowjetregime geschuldeten Generationenkonflikts. Zwei völlig unterschiedliche Wissenschaftskulturen stehen sich gegenüber.Das gegenwärtige jährliche Wirtschaftswachstum von 12 % des BIP geht vor allem vom Dienstleistungssektor aus und kaum von der Produktion. Ohne Nachwuchswissenschaftler und ohne Innovationen wird dieses Wachstum enden und die jungen lettische Menschen werden mit der Tatsache konfrontiert, dass ihre Bildung sie in einem gemeinsamen europäischen Raum nur für gering qualifizierte Arbeitsplätze befähigt.

Junge sehen wenig Perspektiven

Die Migrationsbewegung der letzten Jahre ist eine weitere Entwicklung, die zeigt, was Zukunft für Jugendliche in Lettland bedeutet. Seit dem EU Beitritt Lettlands haben schätzungsweise 72 000 Arbeitskräfte das Land verlassen. In erster Linie in Richtung Irland und Großbritannien. Neue, noch billigere Arbeitskräfte strömen von jenseits der EU-Grenze, in erster Linie aus Weißrussland und der Ukraine nach. Die Absicht, Lettland zu verlassen, haben vor allem junge Menschen zwischen 15 und 35 Jahren, die in der Regel über Englischkenntnisse verfügen. Sie verdingen sich als Saisonarbeiter oder versuchen, für ihren erlernten Beruf eine adäquate Entlohnung zu finden. Manch junge Mutter lässt als Alleinerziehende ihre Kinder bei Verwandten und schickt fleißig kleine Summen nach Hause, an denen dann auch der Finanzminister seine Freude hat.Nackte Zahlen machen deutlich, welche materielle Realität hinter der starken Auswanderungsbewegung steht: Das Durchschnittsnettoeinkommen betrug 2005 217 Euro, wobei die Lebenshaltungskosten in keinem neuen EU-Land seit dem Beitritt stärker gestiegen sind. So kostet z. B. eine Zwei-Zimmer-Wohnung in Riga abhängig von der Lage 144-287 Euro und mehr an Kaltmiete.

Schwache Zivilgesellschaft

Allein der Wille reicht daher oft nicht aus, um sich durch ein Studium einen guten Start ins Arbeitsleben zu verschaffen. In Kai Doerings Artikel wird suggeriert, dass lettische Jugendliche ihr Leben in die Hand nehmen ohne über widrige Bedingungen zu jammern. Es gibt kaum Möglichkeiten sich gegen zu geringe Löhne und andere Widrigkeiten zu wehren. Die Gewerkschaften sind schwach, zivilgesellschaftliche Bewegungen stecken in den Kinderschuhen und ihre positive Entwicklung ist nicht sichergestellt. Das „Jammern“, das Formulieren von Missständen kann auch positiv gesehen werden. Nur wenn Defizite artikuliert werden können sie in die politische Agenda aufgenommen und bekämpft werden. Kai Doering bedauert die aktuelle Shell Jugendstudie, da sie eine sinkende positive Einstellung gegenüber der Zukunft bei deutschen Jugendlichen feststellt. Angst vor Arbeitslosigkeit, Angst vor der wirtschaftlich schlechten Lage und vor Armut sind die größten Sorgen. Das sind reale Ängste, die auf den tatsächlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen in Deutschland fußen. Die Gefahr ist ja gerade, dass diese Ängste nicht ernst genommen werden und keine aktive Arbeitsmarkt- und Armutspolitik folgt.

Motivation reicht allein nicht aus

Auf einem anderen Blatt steht die Motivation, das Wollen leistungsbereiter Jugendlicher, die Kai Doering in erster Linie sieht. Genau wie die u.a. von Springer und Bertelsmann getragene Kampagne „Du bist Deutschland“ erklärt Kai Doering bestehende Problem implizit mit der mangelnden Motivation der Menschen in Deutschland. Polemisch formuliert: Jeder einzelne ist selbst Schuld, wenn es in seinem Leben nicht klappt. Eine solche Perspektive blendet die Gestaltungsmöglichkeiten von Politik völlig aus. Eben deshalb ist diese Kampagne im Kern falsch.Die Frage nach der Zukunft junger Menschen ist immer auch die Frage nach zukunftsfähiger Politik und nach politischem Engagement der Jugend selbst. In Deutschland richten wir den Blick also auf die politische Kultur der Sozialdemokratie. Wir sind an einen starken jungsozialistischen Verband als Nachwuchsorganisation und als „Talentschuppen“ der Mutterpartei gewöhnt. In Lettland versteht die politische Kultur unter Partei eine überschaubare Ansammlung von irgendwie gearteten Sympathisanten hinter einem sehr reichen Unternehmer. Als Parteivorsitzender weiß er im Zweifelfall nicht einmal, ob seine Partei eine Jugendorganisation hat. Jedenfalls ist sie nicht wichtig.

Gesellschaft droht zu zerfallen

Das gilt nicht zuletzt für den sozialdemokratischen Bereich. Aktuelle personelle Veränderungen bei den beiden sozialdemokratischen Parteien und der kleinen Jugendorganisation lassen allerdings gerade jetzt die Möglichkeit zu, die Vernetzung mit den estnischen und litauischen Jusos zu fördern. Über diesen Umweg kann auch der am Boden liegenden sozialen und demokratischen Jugend in Lettland politische Lebenshilfe vermittelt werden. Daran arbeitet derzeit die Friedrich-Ebert-Stiftung in Lettland. Noch mehr Sorge bereitet allerdings die Tatsache, dass Zivilgesellschaft kaum existiert und im Denkschema der post-sowjetischen Funktionäre auch nicht entwickelt werden muss. Vor allem deshalb hat die lettische Jugend nur ganz wenig Sprachrohre – etwa bei den Frauenorganisationen, mit denen sie im eigenen Land für die notwendigen Veränderungen streiten könnte, aber viel zu wenig tut. Lettland zerfällt eindeutig in die kleinere Gruppe der Gewinner der neoliberalen Verhältnisse und den großen Teil der Marginalen. Die Jugend ist ebenfalls in der Gefahr gespalten zu werden – in die Konsumisten, die die teuren Altstadt-Cafés aussitzen und die Verkäuferinnen und Frisörinnen, die alle paar Monate den Job wechseln, weil der Besitzer sich weigert, den Lohn auszuzahlen – vor allem den steuerfreien illegalen Teil im Briefumschlag. Aber ohne diesen lässt sich im Winter oft nicht einmal die Heizung bezahlen.Es gilt – in Deutschland und Lettland – die Zukunft zu gestalten. Angesichts struktureller Probleme führt der Weg nur über eine mit mehr sozialem und demokratischem Enthusiasmus betriebene Politik.

Dr. Elmar Römpczyk FES-Riga

Beate Schmid Studentin an der Universität Hamburg

Veiko Spolitis Dozent an der Stradins Universität Riga

6 comments:

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